Gefühle - alle meine?

 

Für mich war es ein Schlüsselerlebnis. Im Jahre 2001 nahm ich zum ersten Mal an einer systemischen Aufstellung teil. Ich stellte mich als Stellvertreter zur Verfügung und wurde auch gebeten, einen Mann zu vertreten. Also ging ich an den mir zugewiesenen Platz und wartete einfach ab, denn ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Was ich dann im Laufe der Aufstellung erlebte, war völlig neu für mich: Ich erlebte Gefühle einer anderen, mir unbekannten Person so intensiv, als wären es meine eigenen.

 

Dieses Erlebnis gab mir lange zu denken und in weiteren Aufstellungen konnte ich mich immer wieder davon überzeugen, dass wir Menschen tatsächlich in der Lage sind, völlig fremde Gefühle so intensiv zu empfinden, als wären es unsere eigenen.

Und nicht nur das: Die Aufstellungen zeigten mir außerdem, dass wir – oft völlig unbewusst – ganze Grundgefühle und „Grundstimmungen“ von anderen Menschen aus unserem eigenen System übernehmen. Wenn zum Beispiel jemand das tief empfundene Gefühl hat, grundsätzlich nicht am richtigen Platz im Leben zu sein, oder ohne scheinbaren Anlass seit jeher eine innere Traurigkeit spürt, liegen die Ursachen dafür keineswegs immer in der eigenen Kindheit.

 

Diese Gefühle werden „übernommene Gefühle“ genannt oder auch „Fremdgefühle“. Befreiung von diesen Gefühlen gelingt, wenn erkannt wird, von wem oder für wen aus dem eigenen System oder der eigenen Familie jemand ein Gefühl übernommen hat und die Identifizierung mit der anderen Person aufgehoben wird, beispielsweise mittels einer Familienaufstellung.

 

Doch warum übernehmen wir eigentlich überhaupt Gefühle von anderen? Aus Liebe! Aus einer tiefen, völlig unbewussten Liebe zu einer anderen Person aus unserem System. Doch diese Liebe ist blind, denn durch das Übernehmen fremder Gefühle, also den Versuch, jemandem schwere Gefühle abzunehmen, kann keine echte Heilung geschehen. Sie kann erst dann geschehen, wenn wir, einem Ritual ähnlich, diese übernommen Gefühle zurückgeben und der Person, mit der wir unbewusst identifiziert waren, voll zumuten. Wer einmal einen solchen Schritt in einer Aufstellung erlebt hat, weiß um die tief berührende und befreiende Wirkung, nicht nur für die betreffenden Stellvertreter, sondern ebenso für andere Anwesende.

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Roland (Sonntag, 20 Mai 2018 16:03)

    Hallo Herr Seedorf, ich verfolge ihren tollen Blog schon seit geraumer Zeit und ich muss sagen:" Hut ab, schöner Text !"

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. med. Roland Dröge